Dienstag, 5. Februar 2013

Die moderne Vaterrolle hat eine alte Geschichte

Genderfragen sind aktueller denn je. In meiner Praxis treffe ich immer wieder auf Paare, Männer und Frauen, die sich mit ihren Rollen als Mann und Frau oder als Eltern nicht so wohl fühlen, wie sie erhofft haben. Manchmal fehlen praktische Lösungen, wie ein Platz in der Kinderkrippe, hin und wieder sind es Denkmuster und Wertvorstellungen, die auf Anhieb nicht so schnell lösbar sind. Über Frauen ist bereits viel geschrieben und diskutiert worden. Über Männer und ihre Geschichte bis jetzt weniger.

Im Norwegischen Magazin TARA Nr. 13 vom September 2012 bin ich auf einen interessanten Artikel gestossen. Der Männerforscher Jørgen Lorentzen, Zentrum für Geschlechterforschung an der Universität Oslo, hat über die Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern in Norwegen vom 1850 bis heute geforscht. Er ist dabei auf Erstaunliches gestossen, was ich hier in verkürzter Form werde versuchen – zumindest teilweise – wiederzugeben.

In der Zeitphase zwischen ca. 1920 bis 1970 entstand die für damals typische Geschlechterrollenteilung – „der ferne Vater“ machte ein Mittagsschläfchen auf dem Sofa, während die Mutter sich um Kinder und Haushalt kümmerte. In der Zeit davor, zwischen 1850 bis 1920, verhielten sich die Männer anders bzw. die Umstände boten andere Verhaltensmöglichkeiten. Lorentzen hat sehr viele Quellen gefunden, wo beschrieben wird, wie Väter und ihre Kinder einen gefühlsmässig engen Kontakt hatten. Die Väter betreuten ihre Kinder, sie wickelten sie, spielten mit ihnen, schrieben begeisterte und stolze Briefe über sie. Sie verbrachten tatsächlich genau so viel Zeit mit den Kindern wie norwegische Männer heute, wenn nicht mehr! Lorentzen ist davon beeindruckt, in welch herzlicher Ausdrucksweise die Briefe an Freunde und Verwandte formuliert wurden. So beschreibt Ingvald Undset, der Vater von Sigrid Undset, in einem Brief datiert 1882: „welch ungewöhnliches Kind sie doch sei…“ Er beschreibt u.a. ihr schönes Lächeln und ihr energisches Gemüt. Er idealisiert die Tochter dabei nicht, sondern beschreibt sie als kleines Individuum. Lorentzen betont auch, dass die damaligen Väter ihre Töchter und Söhne gleichwertig beschrieben, auch bezüglich Nähe und Verbundenheit. Die Väter waren zudem stark eingebunden in das Geburtsgeschehen. Es war sogar üblich, dass die Frau auf dem Schoss des Mannes sass, während sie ihr Kind gebar. Auch wenn hier vermutlich ein Teil Aberglaube mit im Spiel war (es wurde wohl gemeint, dass die Garantie dann für ein gesundes Kind viel grösser war), führte dies zu einer aktiveren Rolle des Vaters im Begleiten des Kindes in den weiteren Entwicklungsphasen. Zu dieser Zeit war es auch für die Männer normal und üblich, starke Gefühle zum Ausdruck zu bringen, was nicht etwa als weniger maskulin betrachtet wurde.

Auch wenn es damals schon so war, dass die Männer mehr Macht über die Frauen hatten, findet Lorentzen kaum Hinweise auf Gewalt in den Familien. Bestimmt gab es dies auch damals, und bestimmt wurden schwierige Themen verschwiegen. Die Männer waren juristisch gesehen legitimiert, ihre Frauen und Kinder zu bestrafen. Lorentzen hat jedoch keine Hinweise gefunden, die aufzeigen würden, dass Gewalt üblich oder gesellschaftlich toleriert wurde. Durch diese Verantwortung war es aber auch klar, dass der Vater zuständig für die Erziehung war. Er musste schauen, dass sein Kind ein/e gute/r Mitbürger/in wurde. Auch unterrichteten die Väter oft die Kinder selber zu Hause. Auf dem Lande waren die Distanzen gross, die Schulpflicht war zwar im 1739 eingeführt, aber der Widerstand war gross und die Umsetzung schwierig. So waren sowohl die Frauen wie die Männer im oder in der unmittelbaren Nähe des Elternhauses anwesend und entsprechend zuständig.

Die Idealisierung der Hausfrau kam erst um 1900. Die Industrialisierung führte zwar dazu, dass der Mann öfters seine Arbeit ausser Haus hatte. Erst ab ca. 1920 entstanden die längeren Arbeitswege, so dass die Frauen öfters alleine mit den Kindern zu Hause waren. Mit dieser Veränderung gab es eine Art Mentalitätswechsel, die „Ära der Hausfrau“ als Ideal entstand. Viel deutlicher wurde ab jetzt erwartet, dass sie die Verantwortung zu Hause übernehmen sollte. Gleichzeitig zogen sich die Männer zurück, auch gefühlsmässig wie mental waren sie nicht mehr gleich stark anwesend wie die früheren Generationen. Es gab diese „natürliche“ Aufgabe für sie nicht mehr…

Das neue Ehegesetz vom 1927 verstärkte das ganze nochmals. Eigentlich wollten die Frauen die gleichen Rechte in der Ehe wie die Männer, aber wie sollte dies geschehen, solange die Männer so viel mehr verdienten als die Frauen? Also wurde den Frauen das Recht gegeben, ebenfalls das gleiche zu verdienen. Hiermit entstand aber die Doppelrolle der Frauen: Die Männer hatten ihren Platz in der Berufswelt draussen, die Frauen hatten ebenfalls ihren Platz in der Berufswelt draussen, letztere aber gleichzeitig auch zu Hause!

Auch wenn dies nicht die Intention damals war, diese Ungerechtigkeit des Geschlechterrollenverständnisses ist bis heute nicht gelöst, wenn auch immer wieder intensiv diskutiert. – Die Männer wurden in den 50er Jahren noch weiter von zu Hause weggeschoben. In Filmen wurden sie z.B. nicht selten als hoffnungslos unbrauchbar gezeigt, unfähig ein Ei zu kochen, geschweige denn ein Kind zu wickeln. Die gute Hausfrau rettete dann jeweils die Situation. Die (passiv geduldete) Anwesenheit des Vaters während der Geburt wurde in Norwegen erst anfangs der 70er Jahre wieder normal.

Lorentzen betont, dass auch wenn 2-3 Generationen von Vätern sogenannt „fern“ waren, dies absolut kein Argument dafür ist, dass Männer nicht genau so liebevoll und fürsorglich  wie die Frauen, Verantwortung für Erziehungs- und Haushaltsaufgaben übernehmen können.

Für mich sind diese Entdeckungen und Erkenntnisse sehr interessant. Selbstverständlich sind gewisse Geschehnisse eher typisch für die skandinavischen Länder, in den deutschsprachigen Regionen in Europa war die Veränderung der Geschlechterrollen sowie die prägende soziale oder kulturelle Entwicklung höchstwahrscheinlich anders. Nichtdestotrotz finde ich es wertvoll neue Erkenntnisse oder Haltungen in die aktuelle Genderdiskussion mit einzubeziehen. Hin und wieder empfinde ich die ganze Diskussion ziemlich harzig, da können neue Gedanken nur hilfreich sein.