Im
Norwegischen Magazin TARA Nr. 13 vom September 2012 bin ich auf einen
interessanten Artikel gestossen. Der Männerforscher Jørgen Lorentzen, Zentrum
für Geschlechterforschung an der Universität Oslo, hat über die Beziehung
zwischen Vätern und ihren Kindern in Norwegen vom 1850 bis heute geforscht. Er
ist dabei auf Erstaunliches gestossen, was ich hier in verkürzter Form werde
versuchen – zumindest teilweise – wiederzugeben.
In der Zeitphase zwischen ca. 1920 bis 1970 entstand
die für damals typische Geschlechterrollenteilung – „der ferne Vater“ machte
ein Mittagsschläfchen auf dem Sofa, während die Mutter sich um Kinder und
Haushalt kümmerte. In der Zeit davor, zwischen 1850 bis 1920, verhielten sich
die Männer anders bzw. die Umstände boten andere Verhaltensmöglichkeiten.
Lorentzen hat sehr viele Quellen gefunden, wo beschrieben wird, wie Väter und
ihre Kinder einen gefühlsmässig engen Kontakt hatten. Die Väter betreuten ihre
Kinder, sie wickelten sie, spielten mit ihnen, schrieben begeisterte und stolze
Briefe über sie. Sie verbrachten tatsächlich genau so viel Zeit mit den Kindern
wie norwegische Männer heute, wenn nicht mehr! Lorentzen ist davon beeindruckt,
in welch herzlicher Ausdrucksweise die Briefe an Freunde und Verwandte
formuliert wurden. So beschreibt Ingvald Undset, der Vater von Sigrid Undset,
in einem Brief datiert 1882: „welch ungewöhnliches Kind sie doch sei…“ Er
beschreibt u.a. ihr schönes Lächeln und ihr energisches Gemüt. Er idealisiert
die Tochter dabei nicht, sondern beschreibt sie als kleines Individuum. Lorentzen
betont auch, dass die damaligen Väter ihre Töchter und Söhne gleichwertig
beschrieben, auch bezüglich Nähe und Verbundenheit. Die Väter waren zudem stark
eingebunden in das Geburtsgeschehen. Es war sogar üblich, dass die Frau auf dem
Schoss des Mannes sass, während sie ihr Kind gebar. Auch wenn hier vermutlich ein
Teil Aberglaube mit im Spiel war (es wurde wohl gemeint, dass die Garantie dann
für ein gesundes Kind viel grösser war), führte dies zu einer aktiveren Rolle
des Vaters im Begleiten des Kindes in den weiteren Entwicklungsphasen. Zu
dieser Zeit war es auch für die Männer normal und üblich, starke Gefühle zum
Ausdruck zu bringen, was nicht etwa als weniger maskulin betrachtet wurde.
Auch wenn es damals schon so war, dass die
Männer mehr Macht über die Frauen hatten, findet Lorentzen kaum Hinweise auf
Gewalt in den Familien. Bestimmt gab es dies auch damals, und bestimmt wurden schwierige
Themen verschwiegen. Die Männer waren juristisch gesehen legitimiert, ihre
Frauen und Kinder zu bestrafen. Lorentzen hat jedoch keine Hinweise gefunden,
die aufzeigen würden, dass Gewalt üblich oder gesellschaftlich toleriert wurde.
Durch diese Verantwortung war es aber auch klar, dass der Vater zuständig für
die Erziehung war. Er musste schauen, dass sein Kind ein/e gute/r Mitbürger/in
wurde. Auch unterrichteten die Väter oft die Kinder selber zu Hause. Auf dem
Lande waren die Distanzen gross, die Schulpflicht war zwar im 1739 eingeführt,
aber der Widerstand war gross und die Umsetzung schwierig. So waren sowohl die
Frauen wie die Männer im oder in der unmittelbaren Nähe des Elternhauses
anwesend und entsprechend zuständig.
Die Idealisierung der Hausfrau kam erst um
1900. Die Industrialisierung führte zwar dazu, dass der Mann öfters seine
Arbeit ausser Haus hatte. Erst ab ca. 1920 entstanden die längeren Arbeitswege,
so dass die Frauen öfters alleine mit den Kindern zu Hause waren. Mit dieser Veränderung
gab es eine Art Mentalitätswechsel, die „Ära der Hausfrau“ als Ideal entstand.
Viel deutlicher wurde ab jetzt erwartet, dass sie die Verantwortung zu Hause
übernehmen sollte. Gleichzeitig zogen sich die Männer zurück, auch gefühlsmässig
wie mental waren sie nicht mehr gleich stark anwesend wie die früheren
Generationen. Es gab diese „natürliche“ Aufgabe für sie nicht mehr…
Das neue Ehegesetz vom 1927 verstärkte das
ganze nochmals. Eigentlich wollten die Frauen die gleichen Rechte in der Ehe
wie die Männer, aber wie sollte dies geschehen, solange die Männer so viel mehr
verdienten als die Frauen? Also wurde den Frauen das Recht gegeben, ebenfalls
das gleiche zu verdienen. Hiermit entstand aber die Doppelrolle der Frauen: Die
Männer hatten ihren Platz in der Berufswelt draussen, die Frauen hatten ebenfalls
ihren Platz in der Berufswelt draussen, letztere aber gleichzeitig auch zu
Hause!
Auch wenn dies nicht die Intention damals
war, diese Ungerechtigkeit des Geschlechterrollenverständnisses ist bis heute
nicht gelöst, wenn auch immer wieder intensiv diskutiert. – Die Männer wurden
in den 50er Jahren noch weiter von zu Hause weggeschoben. In Filmen wurden sie
z.B. nicht selten als hoffnungslos unbrauchbar gezeigt, unfähig ein Ei zu
kochen, geschweige denn ein Kind zu wickeln. Die gute Hausfrau rettete dann
jeweils die Situation. Die (passiv geduldete) Anwesenheit des Vaters während
der Geburt wurde in Norwegen erst anfangs der 70er Jahre wieder normal.
Lorentzen betont, dass auch wenn 2-3 Generationen
von Vätern sogenannt „fern“ waren, dies absolut kein Argument dafür ist, dass
Männer nicht genau so liebevoll und fürsorglich wie die Frauen, Verantwortung für Erziehungs-
und Haushaltsaufgaben übernehmen können.
Für
mich sind diese Entdeckungen und Erkenntnisse sehr interessant.
Selbstverständlich sind gewisse Geschehnisse eher typisch für die
skandinavischen Länder, in den deutschsprachigen Regionen in Europa war die
Veränderung der Geschlechterrollen sowie die prägende soziale oder kulturelle
Entwicklung höchstwahrscheinlich anders. Nichtdestotrotz finde ich es wertvoll
neue Erkenntnisse oder Haltungen in die aktuelle Genderdiskussion mit
einzubeziehen. Hin und wieder empfinde ich die ganze Diskussion ziemlich
harzig, da können neue Gedanken nur hilfreich sein.